… und plötzlich beginnen Sie, in meinen Armen zu Sterben

Es ist ein Freitagmorgen, irgendwann im Herbst. Ich habe meinen zweiten Nachtdienst auf der Palliativstation§ und gehe zum letzten Rundgang, bevor der Frühdienst kommt, durch die Patientenzimmer. Ich habe mich gerade wieder an den Schreibtisch gesetzt, um mit der Dokumentation zu beginnen, da höre ich das Piepsen eines Infusomaten§. Ich ärgere mich ein kleinwenig über mich, hätte mir doch eben gerade beim Rundgang auffallen müssen, dass die Infusion bei Ihnen, Frau Liedke§, gleich leer sein wird.

Ich öffne leise und vorsichtig Ihre Zimmertür, damit Sie nicht mehr als nötig in Ihrem Schlaf gestört werden. Berichteten Sie mir doch bereits am Abend, Sie haben die vergangenen Nächte nur sehr schlecht bis gar nicht geschlafen.

Sie sitzen mehr oder weniger aufrecht im Bett. Ich frage Sie leise, ob alles in Ordnung sei. Sie nicken stumm. Im Schatten des Flurlichtes hänge ich zunächst Ihre Infusion ab. Ich spüle Ihren Port§ mit 10 ml 0,9%iger NaCl-Lösung§ und biete Ihnen an, Sie zu repositionieren. Sie bekommen schlecht Luft und ich nehme ein brodelndes Geräusch Ihrer Atmung wahr. Meine Kollegin holt ein Inhalationspräparat, welches wir Ihnen gleich zum Inhalieren verabreichen werden. Wir positionieren Ihren Oberkörper aufrecht, um die bestmögliche Ventilation Ihrer Lunge zu gewährleisten. Wir unterpolstern auch Ihre Arme, um Ihre Atemhilfsmuskulatur zu unterstützen. Sie werden kurzatmig und tachypnoeisch, so nennen wir es, wenn Ihre Atemfrequenz stark zunimmt. Ebenfalls werden Sie tachykard, d.h. Ihre Herzfrequenz steigt stark an.

Ich unterstütze Sie bei der Inhalation und halte Ihnen die Maske vor Ihr Gesicht, da ich das Gefühl habe, dass Ihnen die Maske im umgelegten Zustand Angst macht. Reden können Sie nicht mehr mit mir. Sie ziehen Ihre Stirn in fragende Falten und schauen mich mit großen Augen an, bevor Sie die Kraft verlässt und Sie die Augen schließen. Sie atmen die Inhalation ein, zeitgleich erhalten Sie ein Bedarfsmedikament, welches Ihre Atmung beruhigt und Ihre Angst reduziert.

Das Brodeln Ihrer Atmung lässt etwas nach, Ihre Herzfrequenz wird etwas langsamer. Ich rede beruhigend mit Ihnen, halte mit der einen Hand das Inhalationsgerät und mit der anderen Ihre Hand. Nach ca. 10 Minuten beenden wir die Inhalation. Meine Kollegin ist an Ihrer rechten, ich stehe an Ihrer linken Seite. Das Bedarfsmedikament hat nur bedingt seine Wirkung entfaltet. Sie sind weiterhin dyspnoeisch, das bedeutet, dass Sie große Atemnot haben. In Intervallen beugen Sie sich panisch nach vorn, reißen die Augen auf und schauen mich nur fragend an. Ich erkläre Ihnen ruhig, was gerade passiert und was unsere nächsten Schritte sind – und versichere Ihnen ebenfalls, dass ich Sie nicht allein lassen werde. Sie versuchen aufzustehen, dazu fehlt Ihnen aber die Kraft und die Luft. Ich lege Ihnen den Arm um die Schultern und erschöpft lassen Sie Ihren Kopf an meine Brust fallen.

Ich bin bei Ihnen. Ich werde Sie nicht allein lassen, Frau Liedke.

Zur selben Zeit telefoniert meine Kollegin mit unserem Stationsarzt, der Hintergrunddienst hat. Wir erhalten telefonische Anordnungen, die wir umgehend ausführen. Wir geben Ihnen Sauerstoff und weitere Medikamente als Kurzinfusionen, um ihr stärkstes Symptom, die Dyspnoe, zu kontrollieren. Ihre Situation spitzt sich zu, sodass mir, während ich Sie im Arm halte und Ihr Kopf an meiner Brust liegt, klar wird, dass Sie plötzlich angefangen haben, zu sterben. Mittlerweile ist der Frühdienst eingetroffen und wir haben Ihre Angehörigen aus dem Bett geklingelt, um sie über Ihren Zustand zu informieren. Ich stehe an Ihrem Bett und halte Sie, so lange, bis mich jemand ablösen kann. Wir lassen Sie nicht allein. Am darauffolgenden Nachmittag sind Sie im Beisein Ihrer Familie verstorben.


Das Sterben & der Tod werden viel zu häufig an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt. Diese Phasen des Lebens gehören aber genauso zum Leben, wie die Geburt oder das Älterwerden. Wenn euch das Thema “Tod & Sterben” interessiert, hört gern mal in unseren Podcast rein.

Credits Foto: Alain Frechette, pexels

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Mareike Duhnsen
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2 Kommentare

  1. Bernd Schmidt

    Toller Text, großes Kompliment.

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